@Gunnar_Lott Ich habe an Gymnasien in Bayern unterrichtet (meine ganzen Erfahrungen beziehen sich auf nur dieses Bundesland, Bildungssache ist Ländersache und daher überall sehr anders), bevor ich die Schulart gewechselt habe. Am Gymnasium steht leider nicht das Kind im Mittelpunkt, sondern der Lehrplan bzw. das Ziel Wissen zu vermitteln. Und Tests sind immer eine Drohung zum Lernen, die meiner Erfahrung nach aber nur bedingt funktioniert.
Kleiner Exkurs zu Tests: Mir ist aber und war es immer auch schleierhaft, was mit unangekündigten Arbeiten (sogenannte Extemporale oder kurz Exen) oder auch Abfragen zu Beginn der Stunde erreicht werden soll. Will ich eine Leistungskontrolle, um zu sehen, was meine Schüler*innen können? Dann ist es kontraproduktiv, sie nicht anzukündigen.
Die Idee dahinter ist natürlich, dass die Schüler immer lernen, weil sie nie wissen, was passiert, aber das ist Wunschdenken . Aber jemanden beim Nichtlernen zu erwischen und eine 5 oder 6 zu geben dient gleichzeitig nur selten der Motivation. Da stimme ich euch beiden auf jeden Fall zu.
Ich persönlich finde generell das System am Gymnasium für viele Kinder (und mich in meiner Lehrerpersönlichkeit) den verkehrten Ansatz, weswegen ich auch nicht mehr an dieser Schulart unterrichte. Aber das sind so strukturelle Probleme, die man nicht einfach beheben kann. Ich will nicht nur Wissen vermitteln, sondern Menschen zu Persönlichkeiten erziehen und dafür muss ich meine Kinder einfach gut kennen und kennenlernen und diese Möglichkeit ist am Gymnasium, wenn man rund 200 Schüler*innen unterrichtet, doch stark beschränkt. Die Entwicklung des Kindes kann da nicht im Fokus stehen.
Es stimmt, dass die Schülerschaft am Gymnasium sehr viel differenzierter hinsichtlich der Schulleistung geworden ist, als sie es noch vor mehreren Jahrzehnten war. Mit ein Grund ist die Angst vieler Eltern, dass ihre Kinder sonst abgehängt werden.
Dabei ist das deutsche Schulsystem (zumindest theoretisch) sehr durchlässig und es gibt keine Sackgassen. Mal davon abgesehen, dass man nicht studieren muss, um ein gutes Leben führen zu können.
Wir Lehrer*innen sind da auch in der Zwickmühle. Die Lerngeschwindigkeit im Unterricht kann ich nicht an den schwächsten anpassen, zum einen weil sich sonst die Guten zu sehr langweilen und zum anderen weil der Lehrplan mit einer imaginären Peitsche hinter jeder Lehrkraft steht und diese antreibt. Und der Lehrplan ist sehr voll. Man muss bis zum Ende des Schuljahres durch sein, sonst kann ja im nächsten Jahr die Lehrkraft nicht daran anschließen und fällt auch wieder hinterher. Ihr habt ja ein Beispiel dafür im Podcast genannt, ich kenne eins aus meiner eigenen Schullaufbahn. Das ist ein absolutes No Go.
Aber während die Schülerschaft weniger homogen geworden ist, ist das Schulsystem diesen Schritt nur teilweise mitgegangen und zwar weniger im Lehrplan, als unter der Hand, indem die Qualität der Schularbeiten herabgesetzt wird und die Durchlässigkeit zum nächsten Jahrgang erhöht wird.
Differenzierung als Methodik im Unterricht war in meiner Lehrerausbildung am Gymnasium ein Fremdwort, das ich erst an meiner neuen Schulart richtig kennenlernte. Weiß nicht, ob sich das geändert hat. Differenzierung bedeutet mehr Lehrpersonal zu haben, das regelmäßig da ist, um Einzelförderung oder Förderung in Kleingruppen zu betreiben. Mehr im Team zu unterrichten. Und auch unterschiedliches Arbeitsmaterial und unterschiedliche Leistungskontrollen. Es sind einfach nicht alle Kinder gleich. Da musste ich immer auf Nachhilfe verweisen, aber das ist auch wieder eine finanzielle Sache.
Warum die höhere Durchlässigkeit? Es gibt nun mal einen Kampf um die Kinder. Vor allem in Städten mit Alternativschulen. Oder im Grenzbereich zu anderen Bundesländern, wenn man genauso gut im Nachbarbundesland ein „leichteres“ Abitur machen kann (gerade für Bayern ein Problem).
Die Anzahl an Lehrerstunden, die eine Schule zugeteilt bekommt, hängt von der Anzahl der Kinder ab, die sie hat. Ich habe schon an Kennenlernabenden für zukünftige 5.Klässler*innen teilgenommen, bei denen jede Fachschaft ein riesiges Trara aufführen muss, um das Interesse der Kinder und Eltern zu wecken, während der Schulleiter an der Eingangstür stand und höchstpersönlich jede Person begrüßte und verabschiedete. Bald darauf verkündete er sehr zufrieden, dass unsere Schule am meisten Kinder für die nächste 5. Klasse in der Stadt bekommen hätte.
Das führt auch dazu, dass Kinder, denen vielleicht ein Schulartwechsel gut tun würde, trotzdem durchgezogen werden, weil Klassenbildungen daran hängen und damit eine größere Anzahl an Personal. Schulpolitik .
Ein Problem für uns Lehrer ist aber auch, dass jeder Mensch in Deutschland meint, er oder sie wüsste, wie der Lehrerberuf aussieht, weil man ja selbst Schüler war. Ich war da nicht anders, bis ich plötzlich im Referendariat war und feststellte, dass das doch ganz anders ist. Der Unterricht im Klassenzimmer ist nicht der größte Teil der Arbeit. Da ist sehr viel außen rum, was aber von einem Schüler nicht gesehen werden kann. Ich bin da auch naiv in das Lehramtsstudium gegangen und die Praktika im Studium haben sich auch nur auf das Unterrichten konzentriert, so dass ich erst durch den Praxisschock gelernt habe, was ich eigentlich leisten muss. Die Lehrerbildung ist absolut reformbedürftig.
Gunnar, Unterrichtsbesuche am Gymnasium sind in Bayern oft unangekündigt. Das hängt aber immer von der Person der Schulleitung, Seminarleitung oder Betreuungslehrkraft ab. Die meisten bei mir waren unangekündigt. Das ist aber auch wieder wie bei den Tests für die Schüler. Was will ich damit erreichen?
@Chris Lehrer werden nicht direkt bewertet hinsichtlich der Anzahl an durchgefallenen Schüler*innen, aber jede Arbeit, die man schreibt, wird am Gymnasium vom Fachbetreuer kontrolliert. Der Notenschnitt darf dabei nicht zu gut sein (besser als 2,0) und nicht zu schlecht sein (schlechter als 4,0). Tritt dieser Fall ein, muss die Arbeit nochmal durchkorrigiert werden und in die ein oder andere Richtung verschoben werden. Falls man am Ende nach mehrmaligen Korrekturdurchgängen immer noch jenseits der Grenze ist, muss man zur Schulleitung und sich den Notendurchschnitt absegnen lassen. Die lässt das normal schon durch, aber nicht wenn es häufiger vorkommt, weil dann die Arbeit nicht gut genug gestellt war (entweder zu schwer oder zu leicht). Dadurch sollte verhindert werden, dass in deinem Fach zu viele schlechte Noten existieren.
Ähnlich ist es, wenn Schüler vom Durchfallen bedroht sind. Das sollte eigentlich für keine Partei eine Überraschung sein. Zum Beispiel gibt es zum Halbjahr einen besonderen Brief, wenn 1 6 oder 2 5er im Zeugnis sind. Wobei das schon passieren kann, dass Eltern das nicht mitbekommen, weil die Elternarbeit am Gymnasium oft nicht den Stellenwert hat wie an anderen Schularten und wenn die Eltern nicht das Interesse zeigen, von sich aus Kontakt zu suchen, das dann häufig vom persönlichen Eifer der Lehrkraft abhängt, da die Strukturen etwas mangelhaft sind. Elternabende sind Massenveranstaltungen, die durchgetaktet sind und nur 5-10 Minuten pro Kind (so war es bei mir je nach Schule mal 5 mal 10 Minuten) erlauben. Und dann kommen größtenteils nur die Eltern, die leistungsstarke Kinder haben. Gerade die Eltern, mit denen es Gesprächsbedarf gäbe, kommen oft nicht.
Aber kleine Anekdote hier, ich hatte auch schon am Ende des Schuljahres ein Gespräch mit meinem Schulleiter, der mich direkt dazu aufforderte, einem Schüler, der bei mir auf einer 5 stand, noch mündlich in seinem Büro eine 2 zu geben, damit die Gesamtnote auf 4,6 kommt, so dass man in der Notenkonferenz per Abstimmung ein Vorrücken erlauben könnte.
Ein sehr guter Punkt von dir, Chris, die Vorbereitungszeit für guten Unterricht ist extrem hoch und da müssen oft Abkürzungen genommen werden, damit man das alles schafft. Ihr sagt ja 2h pro Stunde und das ist für sehr guten Unterricht eine ganz gute Faustregel. Wenn man 23 Unterrichtsstunden in der Woche Vollzeit am Gymnasium arbeitet, wären das dann ja 46h Vorbereitungszeit. Und das ohne Korrekturen, von denen es am Gymi doch sehr viele gibt. Und keine anderen Aufgaben, die man sonst auch noch hat (z.B. schulinterne Aufgaben, Elternarbeit, Wettbewerbe, Projekte).
Gunnar, zu deinem Punkt, dass man einfach den Unterricht vorbereitet und dann das Material immer wieder rausholt und dieselbe Stunde halten kann bzw. parat hat. Das ist leider nicht so einfach. Jede Lerngruppe ist anders und die Stunden müssen auch immer wieder darauf angepasst werden. Und dann passieren genug unvorhergesehene Ereignisse, die die Stunde durcheinander bringen, weswegen man sie nicht so halten kann, wie ursprünglich geplant. Und wenn es nur ist, weil man 5 Minuten zu spät kommt, weil man nicht pünktlich aus der Vorstunde herauskommt und dann zum anderen Ende des Schulhauses laufen muss, um das andere Klassenzimmer zu erreichen. Und schon hat man nur 40 Minuten Unterrichtszeit, aber auch nur falls keine Schüler mit Fragen am Pult stehen. (Deswegen wechseln einige Schulen zum Lehrerraumprinzip, in dem die Schüler und nicht die Lehrkräfte die Klassenzimmer wechseln. Weniger Stress für die Lehrkräfte, aber dafür andere Nachteile.) Das führt zu einem Rattenschwanz, der die nachfolgenden Stunden auch wieder beeinflussen.
Außerdem ist man oft nicht mehr zufrieden mit dem, was man vor 2-3 Jahren mal gemacht hat. Ist auch gut so, man soll sich ja weiterentwickeln.
Und selbst wenn man die Stunde bzw. Teile der Stunde wiederverwenden kann, gibt es am Gymnasium 9 Jahrgangsstufen. Bis man da mal für jedes seiner Fächer (das sind 2-3 Fächer in Bayern) durch ist und alles einmal gemacht hat und dann noch einmal so, dass man sagt, das passt für alle Ewigkeit dauert es auch sehr lange. Und dabei lasse ich es jetzt aus, dass man gerade in Sprachen vieles doppelt machen muss, weil z.B. Französisch als 2. Sprache und als 3. Sprache einfach anders ist (und Mathe im Naturwissenschaftlichen Zweig anders aufgebaut ist als im Wirtschaftlichen Zweig, etc.). Und wenn neue Schulbücher kommen, müssen gerade in den Sprachen vieles neugestaltet und angepasst werden (mehr als man meinen möchte, weil plötzlich bestimmte Grammatikeinheiten und Vokabeln ganz woanders vorkommen, weshalb alle alten Arbeitsblätter weggeschmissen werden müssen, weil der Wortschatz ein anderer ist). Gerade als junge Lehrkraft is die Arbeitsbelastung extrem höher. Daher sind ja auch diese Abkürzungen, von denen Chris gesprochen hat, so wichtig für die eigene Gesundheit. Die führen natürlich wieder dazu, dass man mit dem Material später nicht mehr so glücklich ist.
Man muss schon in Krankheitsfällen den Vertretungslehrkräften die Stunde und Material dazu zur Verfügung stellen, damit sie dementsprechend vertreten können, aber bei Vertretungen hat die Klasse auch oft nicht so die Lust und Motivation und dann kommt auch weniger raus als bei einem selber. Es gibt ja eine Lehrer-Schüler Beziehung, die sehr wichtig für die Lernbereitschaft und Motivation ist. Die ist bei der Vertretung einfach meist so nicht da.
Ich fand es aber auch immer eine große Belastung, wenn ich (länger) krank bin, trotzdem meinen gesamten Unterricht vorzubereiten und jemand anderem zu schicken. Ich sollte gesund werden und nicht daheim am Computer sitzen und arbeiten. Und wir sind ja hier wieder bei dem Punkt, dass nicht alles immer so vorbereitet ist, dass man einfach in eine Schublade greifen muss.
Zum Abschluss für diese riesige Wall of Text noch ein Comic, der ein grundlegendes Problem sehr gut ausdrückt und das ihr auch bei der kurzen Diskussion über introvertierte und extrovertierte Kinder angesprochen habt, das aber natürlich noch viel tiefer geht: