Man will das ja nicht ausufern lassen und ich bin höchstwahrscheinlich nicht der einizige Lehrer hier und andere sehen das vielleicht auch anders, aber ich versuch es mal anders und aus meiner Egoperspektive darzustellen (auch wenn die Deutschen lieber das „man“ verwenden, weil es dann scheinbar objektiv sei). Ich freue mich ja über den Austausch, und, wie gesagt, das ist alles meine persönliche didaktische Perspektive, es gibt natürlich so viele Wahrheiten wie LehrerInnen! Das hat jetzt so einen Erklärton, aber mein Gott…
Wenn ich Unterricht plane, dann bin ich natürlich an meine Fächer (in meinem Fall Philosophie und Geschichte) und an den Lehrplan gebunden. In diesem Rahmen setze ich Ziele, was die SchülerInnen lernen sollen (eben Lernziele). Jetzt möchte ich der gesellschaftliche Relevanz von Spielen in meinem Unterricht gerecht werden, auch wegen des Lebensweltbezugs der SchülerInnen und der vielfach geforderten Medienkompetenz. Letzteres geht in jedem Fach, wird auch überall im Lehrplan verlangt und ist mittlerweile verpflichtender Teil der LehrerInnenausbildung (wenn jemand also Medienkompetenz als Schulfach fordert, dann ist er/sie völlig ahnungslos, echt mal).
Wie kann man also über Computerspiele philosophische bzw. historische Lernziele erreichen, denn ich glaube, dass es ursprünglich mal darum ging, zumindest habe ich das so verstanden.
Geschichte: Ich glaube, dass mein Quellenbegriff oben missverstanden wurde. Eine Primärquelle ist potentiell jeder Sachverhalt, der zu der betrachteten Zeit entstanden ist: Spielfilme, Flugblätter, Fotos, Radiosendungen, Protokolle von Fieberwahn, Fernsehapparate, Postkarten, Tagebucheinträge, Patronenhülsen, Romane, Gedichte, Traumtagebücher, Arcade-Automaten… an all diese Sachverhalte kann man historische Fragestellungen richten, und es kommen ja auch immer neue Fragestellungen dazu, je nachdem, wie sich die gesellschaftlichen Bedingungen ändern, in denen diese Fragen gestellt werden. Eine sehr lange Zeit man hat man nur Politikgeschichte geschrieben, da hat man viele Quellen vernachlässigt bzw. viele Sachverhalte gar nicht als Quelle akzeptiert, was natürlich auch heute noch so ist. Das hat sich mit der Geschichte der gesellschaftlichen Emanzipation von marginalisierten Gruppen geändert, und dann kam nicht nur die Geschichte der Frauen und „Minderheiten“, sondern damit auch die Kultur- und Sozialgeschichte auf. Denn wenn ich eine Geschichte der türkischen Migration in Deutschland schreiben möchte (und auch die migrantische Perspektive in den Blick nehmen möchte), dann reichen meine Politikquellen nicht aus, es sei denn, ich will eine Biographie von Cem Özdemir schreiben, und selbst dann wird es ohne andere Quellen ziemlich unergiebig.
Dann gibt es die Sekundärquellen oder -literatur, das ist Geschichtsschreibung, Narration, Deutung und Bewertung. Ich würde gerne bei dem Wolfenstein-Beispiel bleiben, denn wenn man das ausklammern würde, dann hätte man in der Argumentation einen ziemlich blinden Fleck (außerdem ist das so spannend, dass ich ungelogen gestern Abend noch stundenlang New Order installiert habe). New Order ist nun sowohl eine Primärquelle aus 2014 als auch eine Sekundärquelle in Form einer historischen Deutung oder Narration des Nationalsozialismus. Im ersten Fall ist es sehr, sehr ergiebig, im zweiten Fall könnte man es vielleicht als ein Artefakt der counterfactual history verwenden, aber das ist nichts für die Schule und ich finde den Ansatz auch persönlich nicht so ergiebig. Was es aber auf gar keinen Fall ist: eine Primärquelle zum NS oder den Holocaust.
An New Order als Primärquelle können die SchülerInnen sehr viel lernen über die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Sie können das sehr gut kontextualisieren durch die Debatte über die Zensur von Hakenkreuzen in Wolfenstein im Vergleich zu Indiana Jones. Sie lernen dabei zum einen sehr viel über das Kulturgut Computerspiel, als auch über die gesellschaftlichen Diskurse, in der eine Gesellschaft den NS 70 Jahre später verhandelt. Sie können auch bewerten, ob die Cutscene vorm Camp Belica mit dem Baby moralisch vertretbar ist (was ja damals ein Riesenpunkt war). Die Stiftung Digitale Spielekultur schreibt dazu:
Für die Medienkompetenz bietet sich der Shooter hervorragend an. Da die unzensierte Version nun auch als sozialadäquat eingestuft wird, kann man hier die Auswirkung von Selbstzensur zeigen. Die möglichen Verfälschungen durch Euphemismen oder Auslassungen zeigen, wie schwer es ist, Tabus wie den Holocaust in digitalen Spielen zu umgehen, und welche Gefahren hier entstehen. Außerdem ist Wolfenstein ein Beispiel für die Wirkung von Klischees.
Neben der Medienkompetenz ist deswegen auch die bewusste Darstellung des NS-Regimes ein Punkt, der hier betrachtet werden kann. Das Zeigen der Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik hat eine große Wirkung. Die Satire kontrastiert den Themenkomplex.
Die drastischen Darstellungen müssen jedoch unbedingt kontextualisiert und pädagogisch begleitet werden. Selbst ohne Gewaltdarstellungen wird das NS-Regime bewusst mächtig dargestellt. Hier kann es sonst zur Ästhetisierung kommen. The New Order ist etwas älter und ist somit auch auf älteren Geräten oder Laptops gut spielbar.
Also, Computerspiele sind eine Form der Geschichtsschreibung, die man im Unterricht kritisch untersuchen kann (wie dieses eine Anno ohne Sklaven, glaube ich, ich habe Anno nie gespielt). Oder sie sind Primärquellen aus der Zeit, in der sie entstanden sind, und dann befragt man sie nach den aktuellen Diskursen - sehr ergiebig, sehr interessant, sehr aufwendig, sehr schön. Die Erfahrung von JüdInnen im Vernichtungslager nachzuspielen oder von Reichswehrsoldaten in Verdun fände ich ein geschmackloses und auch nicht erreichbares Lernziel - das hätte in meinem Unterricht nicht viel verloren, aber das ist meine Sicht.
Philo: In Philosophie gibt es in der Schule in der Oberstufe (also in NRW) die vier Gebiete Anthropologie, Ethik, Erkenntnisphilosophie und Staatsphilosophie. Man formuliert, initiiert durch die LehrerIn, ein eigenes philosophisches Interesse bzw. eine Fragestellung, stellt Hypothesen auf, eignet sich dazu Positionen an, vergleicht sie miteinander, wendet sie auf Sachverhalte an bzw. gleicht sie mit diesen ab und positioniert sich selbst begründet. In allen Ebenen, auf allen Gebieten kann man Computerspiele zum Einsatz bringen. Detroit Become Human zum Aufwerfen der Frage nach dem Wesen des Menschen, dem Wert künstlichen Lebens und dem daraus resultierenden Moralsystem (selbst spielbar!), der erkenntnisphilosophischen Frage, dass wenn der Abgleich eines von mir wahgenommenen Objekts (von dem ich nicht weiß, dass es ein künstliches Wesen ist) sich vollständig mit meiner Erfahrung eines Menschen deckt, ob dies dann die hinreichende Konstruktion eines Menschen in meinem Bewusstsein ist, oder ob zu der Erfahrung noch etwas dazukommen muss.
Die Folterszene in GTA wäre sehr gut geeignet, um die Position des Utilitarismus zu behandeln. Es muss allerdings (und das ist das, woran wir uns halten müssen) am Ende das Grundgesetz bzw. die Grundrechte siegen. Wir haben ein absolutes Folterverbot, und das muss man als LehrerIn/BeamteR vertreten, was mir nicht besonders schwer fällt. Ein anderes Beispiel wäre die No Russian Mission in Modern Warfare 2. Die hat ja ihre eigene Geschichte, ich glaube, dass das mal Thema bei 10 Jahre klüger war. Wenn ich diese Szenen im Unterricht spielen lassen will, dann sollte man auf jeden Fall das Zeitmanagement so weit klar haben, dass nicht die Stunde endet, während Nasrin oder Julia gerade eine vierköpfige Familie auf den Weg in den Spanienurlaub auslöscht. Ich möchte persönlich beide Spiele nicht in meinem Unterricht haben, auch wenn die SchülerInnen volljährig sind, denn wir haben zu Recht im Unterricht das Überwältigungsverbot, aber auch das ist Ansichtssache, man kann das vielleicht voher abklären.
Ich habe jetzt nicht über Deutschunterricht und Spiele als „Literatur“ (was ich wenig überraschend so sehe) gesprochen. Analyse der Geschlechterverhältnisse in Last of Us und die ganzen oben genannten Beispiele.
Unterm Strich: Alles möglich, alles spannend, alles unendlich ertragreich - auf der anderen Seite so aufwändig, dass ich persönlich seit fünf Jahren nicht dazu gekommen bin, denn es ist so gut wie nichts didaktisiert (und was ich bis jetzt gefunden habe, fand ich ein bisschen öde, aber das heißt nicht, dass es nichts Gutes gibt), und wenn das vielleicht für einmalig zwei von 25 Wochenstunden sein soll, dann steht der Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag. Eines Tages vielleicht.
Das war’s von mir zu dem Thema, danke fürs Lesen.
Nachtrag: Da hatten sich eine Menge doppelte Absätze eingeschlichen, danke @StefanW für den Hinweis.