ich bin Baujahr 86 und habe mir eine Theorie zurechtgelegt, die ich gerne mit euch teilen und zur Diskussion stellen würde.
Ich bin noch viel mit linearem Fernsehen aufgewachsen. Man schaltete ein, um eine bestimmte Sendung zu sehen, und musste sich in der Zwischenzeit mit dem arrangieren, was gerade lief – sei es eine Doku, eine Talkshow oder eine Nachrichtensendung. Ich bin dabei oft auf Inhalte gestoßen, die mich eigentlich gar nicht interessiert hätten, die dann aber manchmal doch ein neues Interesse geweckt haben. Es war wie eine Art „Zufalls-Vielfalt“.
Meine Theorie ist: Die Jugend von heute wächst in einer Welt der Algorithmen auf. Ob YouTube, TikTok oder Netflix – die Inhalte werden fast ausschließlich auf die eigenen, bereits bekannten Vorlieben zugeschnitten. Man kann alles überspringen, was nicht sofort das Interesse weckt. Dadurch geraten sie in „Filterblasen“ und erleben nicht mehr die zufällige, horizontale Vielfalt, die uns früher begegnet ist.
Konkret fällt es mir gerade schwer den Zugang zu der 13-jährigen Tochter meiner Freundin zu finden, weil sie für rein gar nichts was mich interessiert begeistern kann. Sei es Musik, Videospiele, Comics, Bücher oder Filme. Ich keine Angst ich rede nicht nur von Alten Zeug (Und ich weiß es kann auch nur eine phase sein)
Führt das wirklich dazu, dass junge Menschen insgesamt weniger breite Interessen haben? Oder entwickeln sie stattdessen einfach tiefere, sehr spezialisierte Interessen in bestimmten Nischen, die es früher so nicht gab?
Was denkt ihr – hat sich die Art, wie wir Interessen entdecken, grundlegend verändert? Ich freue mich auf eure Meinungen und Erfahrungen!
Gerade im Kontext von Musik ist mir das stark aufgefallen. In letzter Zeit war ja oft zu hören “Wer ist denn jetzt diese Taylor Swift? Kenn kein Lied von der! Madonna, Michael Jackson, DAS waren noch Stars!” Oder irgendetwas aus der Richtung.
Und das liegt sicher zu einem großen Teil daran, dass nicht mehr “alle” MTV schauen und die Bravo lesen, die die großen Starmacher waren. Das war der Konsens dessen, was gerade alle zu kennen haben.
Nun schaut “keiner” mehr klassisches Fernsehen und hört Radio, sondern stellt sich seine eigene Bubble des Konsums zusammen, ohne jemals in Kontakt mit irgendwas von draußen kommen zu müssen.
Bei Serien ist es ja ähnlich. Durch den Wegfall der überschaubaren Anzahl von Fernsehsendern müssen schon krasse Ausreißer an Popularität kommen, dass da “alle auf dem Schulhof” drüber reden. Da fallen mir erstmal nur “Game of Thrones”, “Stranger Things” und “Squid Game” ein, die eine große Das-musst-du-gesehen-haben-Welle ausgelöst haben. So vieles Andere ist schon nach kürzester Zeit vom nächsten Ding abgelöst. Da hilft die Zersplitterung in noch mehr Streaming-Anbieter nicht gerade.
Wie können das “Zufalls-Interessen” gewesen sein? Die wurden halt durch die damaligen “Gatekeeper” in Radio und Film (Viva\MTV) gesteuert. Zu allen Zeiten war die Unterhaltungsindustrie ein Markt der durch PR gesteuert wurde\wird. Da ist nicht viel mit Zufallsinteressen. Die sogenannten “Independent Filme” und auch die “Indie Bands” sind genauso ein Teil des Zirkus wie die großen, weil am Ende des Tages will jeder von seiner Hände arbeit leben, der eine wie Taylor Swift halt großzügiger, irgendeine Band Camp Band halt weniger.
Nicht umsonst gibt die Unterhaltungsindustrie fast einen genauso großen Anteil für PR wie für das eigentliche Produkt aus. Früher halt irgendwelche Musiksender, heute wird die Kohle halt an Influencer ausgeschüttet.
Auch unser “Retro-Bubble” ist so ein Kosmos mit nur wenigen Schnittstellen zum restlichen Gaming. Weil das halt ein mittlerweile unüberschaubarer großer Markt geworden ist. Genauso Musik, Filme und Bücher. Heutzutage kann praktisch jeder mit relativ geringem Aufwand “kreativ tätig werden”. Nur wächst halt das Publikum nicht so schnell wie das Angebot, also ist es normal das man nur einen Bruchteil des Marktes kennen kann. Ich finde das überhaupt nicht schade, wer will kann heute mehr konsumieren als jemals in der Menschheitsgeschichte zuvor. Und wenn wir ehrlich sind, wollen wir meisten nichts Neues, sondern oft nur mehr von dem gewohnten Zeug. Also das “Bubble Ding” ist auch nichts neues.
Mal eine andere Gegenposition: Ich bin Jahrgang 1983 und bin ohne Fernsehen aufgewachsen. Mir hat das nicht gefehlt, statistisch wurde meine Familie allerdings als “Medienverweigerer” aufgenommen. Das hat nichts damit zu tun, das meine Familie Medienfeindlich gewesen wäre: ich habe bei Freunden fern gesehen, war viel im Kino, hatte früh Zugang zu einem Computer und habe Bücher gesuchtet. Meine Eltern haben meinen Medienkonsum wirklich nie beschränkt (ausser, dass es halt nie einen Fernseher im Haus gab). Ich find lineares Fernsehen schon immer scheisse, weil es mir keine Wahl gegeben hat und dann häufig auch noch Werbung. Das Konsumverhalten vieler Fernseherbesitzer (“Fernsehen nebenher”) geht für mich garnicht. Insofern weiss ich nicht, ob man da was nicht medienhistorisch im Sinne von “damals war alles besser” verklärt.
Zu Filterblasen: es gibt - trotz inzwischen guter Studienlage - keinen Nachweis für Filterblasen, die über “normale” soziale Gruppierungen herausgehen.
Ich glaube nicht, dass sich da irgendwas fundamental geändert hat. Manchmal funktioniert der Kontakt einfach nicht. Ich hab Menschen, mit denen ich zu tun haben muss, zu denen ich 20 Jahre keinen Zugang gefunden habe. Bis ich plötzlich völlig random was gefunden habe, was beiden passt.
Ich mein das nicht feindlich, aber argumentierst du da nicht gerade für Kulturhegemonie?
Der Grund warum ich kein Taylor Swift höre ist auch, weil ich extrem viel Zeit mit krass coolem Scheiss verbringen kann, an den ich in den 90ern nicht rangekommen wäre. Wusstet ihr zum Beispiel, dass Botswana soviele Metal-Bands pro Kopf hat, wie skandinavische Staaten? Das ist heute einen Klick entfernt. Und das ist gerade das Gegenteil davon, dass wir hier harte Bubbles haben, die Wand ist einfach super dünn.
Ich erfahre es überhaupt nicht als Verlust, das Musik (mein Hauptmedium) heute nicht mehr nur über MTV und Viva läuft. Und gerade in der Musik war es eh schon immer so, dass Massenphänomene die über den ganzen Schulhof gingen eher selten waren. Kino bringt eher mal so nen klassischen Strassenfeger hervor, aber ich glaube auch da übertreibt man den Effekt.
Eine letzte Anmerkung zu MTV/Viva und Konsorten: ich hab für beide gearbeitet und denen ging schon ganzschön einer drauf ab, dass sie gewisserweise ansagen konnten, was hip ist und was nicht. Bin froh, dass das weg ist, aus gutem Grund.
Was ich aber auch aus deinen Texten lese, dass du dir einfach sehr viel selber gesucht hast. Du warst neugierig neue Bands zu finden. Genau wie bei mir. Wo kommt das her. Was war der Ursprung. Diese Neugier kann ich heute kaum noch erkennen. Entweder schwimmen Sie damit, was alle hören. Ja nicht auffallen, ja nicht das Gespött werden. Oder gehen ganz tief in ein-2 Themen rein. Ist doch schade nicht mehr die Vielfalt zu sehen oder Freude am Entdecken zu haben.
Du hast völlig recht. Da ist mir (wie schon damals im Deutschunterricht) ein “Thema verfehlt” untergekommen. Und dann habe ich mich in diversen Dingen verstrickt. Letztlich finde ich sogar gut, dass es für jeden die eigene Nische gibt.
Worauf ich mit meinem Taylor-Swift-Dingen hinwollte war, dass dadurch aber beispielsweise dieser Frau ihr Startum abgesprochen wird, weil man eben so selten aus seiner eigenen Bubble rauskommt.
Ich mein, passt. Aber das hatten wir halt auch schon in den 90ern. Ich hab mal ne Metal-Community moderiert und da gehörte es irgendwie zum Ton, populären MusikerInnen das Stardom abzusprechen, weil Abgrenzung halt bei manchen die Gruppenzugehörigkeit fördert (ey, und mal nicht päbstlicher sein als der Pabst: ich war da auch nicht frei von).
Ich hatte damals ein prägendes Erlebnis: ich war mal mit einer Freundin in einer Doku über die Mannheimer Jungleszene. Und in einem Interview hat sich eienr drüber ausgelassen, dass die jungen Leute ja garnicht mehr wissen, worums in den 90ern eigentlich ging und was die mit der guten Musik so machen. Mensch, dem hättste lange Haare ankleben können und drüber reden lassen können, was da so mit Nu Metal heute alles passiert. Da sass ich als mit meinen langen Haaren und Stiefel und dachte „drüben ist auch nicht anders“.
Da geh ich halt nicht mit. Der Mainstream- und Mitläufer-Schnack ist halt nicht neu. Ich hab die 90er schon als ziemlich konformistisch erlebt in der Breite. Gerade in der Meme-Kultur wird schon gerne richtig draufgehauen, das kriegen wir glaube nur häufig nur garnicht so mit.
Ich mein, als Vergleich dazu, als wir LANs gemacht haben, war vielen Leuten garnicht so bewusst, was wir da in den Kellern so spielen (und vor allem die Altersfreigaben :D). Aber die Truppen, die LANs gemacht haben, waren jetzt auch wirklich nur eine gaaaanz kleine Szene, mal auf die Gruppe der Jugendlichen betrachtet. Nur halt eine Gruppe, von der ich halt super viele Leute kannte, deswegen wirkt das so lebhafter.
Ja, dieses Genre-Gebashe und die “eigene” Musik als die überlegene ansehen ist schon wirklich dumm. Wenn man das mit 18 oder 20 sagt: geschenkt. Aber als 40-jähriger nicht zu erkennen, dass Leute unterschiedliche Geschmäcker und Anforderungen an Musik (oder auch an Videospiele) haben, zeugt nicht gerade von Reife.
Streaming führte dazu, dass 1) das Warten auf eine Sendung-oder das Warten im Allgemeinen- nicht mehr gelernt wurde und 2) aufgrund des Überangebots (über das Fernsehen hinaus) eine Übersättigung statt fand. Konnte ich vor allem nach den Corona-lockdowns beobachten.
Die Veränderung der Formate (schnelle Schnitte, kurze Episoden) führten auch zu einer Verringerung der Aufmerksamkeitsspanne. Filme über 20 Minuten sind oftmals brutale Herausforderungen geworden.
Zu der Tochter deiner Freundin- sie ist 13 und da ist alles gern mal scheiße und „meh“ und du bist nicht ihr leiblicher Vater. Aber gib nicht auf. Oftmals werden die Bemühungen durchaus dankbar aufgenommen, es kann altersbedingt nur nicht gezeigt werden.
Jahrgang 1981, und um es mit den Worten von Michael Mittermeier zu sagen: Ich war ein echter TV-Junkie.
Mit eigenem Fernseher Atari 2600 und 3 Programmen aufgewachsen. 1992 kamen RTL und Sat 1. Das waren noch Zeiten, in denen man rauf und runter schaltete, der Werbung entkam, aber auch mal verzweifelt abschaltete und ins Freie floh.
Mit an die 30 Sender kam dann schon einiges sehenswertes hinzu aber mindestens 10x soviel Blödsinn. Aber ich weiß schon was du meinst. Ich kenne mich das Gefühl der Vorfreude auf eine neue Folge meiner Lieblingsserie. Da war man pünktlich zuhause, da standen die Snacks schon bereit.
Das gibt es heute nicht mehr. Man ist schon genervt, wenn eine weitere Staffel nicht komplett hochgeladen wurde. Unser Konsumverhalten hat sich schwer geändert. Klar, ich freue mich auch über die grenzenlose Vielfalt, aber sie macht auch ein wichtig, ja sogar essenzielles Gefühl kaputt: Langeweile. Wer nicht versteht, was ich damit meine, dem erkläre ich das gern mal in Ruhe.
Wir haben früher schon viel Mist geschaut nur aus dem Grund, dass man Fernsehen wollte und nix Gescheites lief. Ich erinnere mich gerade auch nicht daran, dadurch auf ein verstecktes Juwel gestoßen zu sein
Und klar musste ich in der Stadtbibilothek nehmen was da war, aber ich war dann sehr schnell auf SciFi und Fantasy gepolt und hab einfach die Genres abgegrast Ende.
Und was Musik angeht bekam man vorgesetzt was Radio oder die ZDF Hitparade vorkuratiert haben.
Natürlich neigt man heutzutage dazu sich einfach Playlists zu machen und sich nicht zig mal ein Album schön zu hören. Das ist aber auch nicht so viel anders als eine Kassette auf der man einfach die Hits die man mochte aufgenommen hat.
Und z.B. Vinyl hat auch unter jüngeren durchaus viele Anhänger.
Am Ende des Tages: Es ist hauptsächlich anders. Manches ist besser, manches ist Schlechter. So wie die letzten 2000 Jahre oder so
Aber selbst der „Mist“, der lief, hatte doch mehr Tiefgang als Reaction-Videos von Influencern auf Fortnite.
Captain Planet brachte uns etwas über Umweltschutz nahe.
Batman: The Animated Series hatte tragische Charaktere wie Clayface und andere.
Pete & Pete war eine Coming-of-Age-Story, und zwischendurch landeten wir bei den ersten Programmen und lernten noch etwas im Tigerentenclub, bei 1, 2 oder 3 und Art Attack.
Oder man blätterte früher ein Magazin durch. Klar las man, was einen interessierte, aber man blieb auch mal bei etwas hängen, das zunächst nicht das Eigene war, aber dann vielleicht doch spannend klang und den Horizont erweiterte.
Du triffst aber nun doch auch eine voreingenomme Auswahl. So als würde ich sagen: Damals haben sich alle auf Tutti Frutti das Hirn rausgefapped und heute schauen die Kinder fundierte Politik Videos
Ich hab natürlich keine Statistiken und Menschen neigen dazu Dreck zu schauen und die Likes und Follower sagen auch was aus. Aber diese “Früher war alles besser und die Jugend weniger verdorben” Sichtweise sträubt sich mir.
Ich kenne jetzt nicht Massen an Kindern und Jugendlichen aber die die ich kenne sind keine Hirntoten Tik Tok Zombies
Nur schauen nicht alle Kinder Reaction-Videos auf Fortnite. Und es gab früher wie heute Mist im Fernsehen. Heutzutage ist halt alles gleichzeitig abrufbar.
Meine beiden Jüngsten Kinder sind 11 und 13. Den einen interessieren One Piece und griechische Sagen, den anderen Fußball und Zocken. Natürlich gibt es heutzutage im Internet Blasen, in denen sich die Menschen bewegen. Aber noch gibt es Schulhöfe, Freundeskreise und Familie.
Aber schauen sich die Kinder gezielt wissen sendungen an? Folgen Sie vielen Kanälen die auch wissen trasportieren? ICh denke von alle kommt das nicht. Und was Zockt dein kleiner wenn ich fragen darf? Geht er offen ran und probiert vieles oder sind es eher die Multiplayer sachen?
Ich glaube du blendest die ganzen 90er Nachmittagstalkshows oder frühes Frühstücksfernsehen aus. Oder ewige Wiederholungen irgendwelcher uralt Ami-Serien wie Hart aber Herzlich oder was auch immer Mittags auf ProSieben lief (das war bei uns oft Grundrauschen bis der Zeichentrick / Anime-Block nachmittags losging). Und was es nicht auch alles an günstig produziertem Schrott für Kinder gab, dazu zähle ich persönlich auch Kram wie die originale He-Man: MOTU Serie (die mag einen Kult-Status haben, aber die finde ich heutzutage absolut unguckbar) - von irgendwelchen drittklassigen Franco-belgischen Zeichentrickserien (basketballspielende Känguruhs) will ich gar nicht anfangen. Also jede Gen hat schon so ihr flimmerndes Schlüsselbund.
Also die Leute, die ich kenne, die so alt sind wie ich, haben einen sehr offen Geist. Haben sich aus eigenen antriebt in viele Themen reingearbeitet und probieren gerne neues aus. So eine offene Art kann ich nicht so sehr feststellen bei Jugendlichen, die ich heute kennenlerne.