Da muss ich nochmal eine Lanze für das Spielbuch brechen: Die bieten ja auch Entscheidungsmöglichkeiten. Es müssen halt qualitativ wertvolle Entscheidungen sein, nicht unbedingt nur mehr. Was man bei Digitalumsetzungen z.B. auch findet, sind einfach aufgeteilte Absätze. Im Buch steht also:
Absatz1
Absatz2
Abstatz3
Entscheidung zwischen Abschnitt 4 und Abschnitt 5
Im Ditialen ist es dann eher:
Absatz 1
Keine Entscheidung, aber Klick zu Abschnitt 2
Abschnitt2
Absatz 2
Keine Entscheidung, aber Klick zu Abschnitt 3
Abschnitt3
Absatz 3
Entscheidung zwischen Abschnitt 4 und Abschnitt 5
Man klickt mehr und die Textmengen sind überschaubarer, aber am Ende ist kein Entscheidungsgewinn.
Vielleicht lohnt es noch einmal, auf die Qualität von Entscheidungen einzugehen: Als Beispiel soll eine Grabkammer dienen, in der sich die Figur befindet. Es gibt eine Beschreibung der Kammer und dann Entscheidungsmöglichkeiten. Zunächst die Buchversion:
Erklärung, dass man die Kammer durch die linke Tür betreten hat
Beschreibung der Kammer
Möchtest du …
… die Malereien an den Wänden anschauen (33)
… die Inschriften in den Sockeln der kleinen Figuren studieren (45)
… die Inschrift im Sockel der großen Figur anschauen (55)
… die Särge anschauen (93)
… die Kammer durch den linken Ausgang verlassen (103)
… die Kammer durch den rechten Ausgang verlassen (133)
Dieser Abschnitt soll einfach mal die Basisversion darstellen. Wenn man die Abschnitte 33, 45, 55 und 93 aufsucht, erfährt man, was man da sieht oder liest und wird zurück auf diesen Aufgangsabschnitt verwiesen.
In der Digitalvariante kann man das jetzt aufblähen:
Erklärung, dass man die Kammer durch die linke Tür betreten hat
Beschreibung der Kammer
Möchtest du …
… die Malereien an der linken Wand anschauen (33a)
… die Malereien an der hinteren Wand anschauen (33b)
… die Malereien an der rechten Wand anschauen (33c)
… die Inschriften im Sockel der kleinen Katzenfiguren studieren (45a)
… die Inschriften im Sockel der kleinen Hundefiguren studieren (45b)
… die Inschriften im Sockel der kleinen Insektenfiguren studieren (45c)
… die Inschriften im Sockel der kleinen Pferdefiguren studieren (45d)
… die Inschrift im Sockel der großen Figur anschauen (55)
… den linken Sarg anschauen (93a)
… den rechten Sarg anschauen (93b)
… die Kammer durch den linken Ausgang verlassen (103)
… die Kammer durch den rechten Ausgang verlassen (133)
Das sind viel mehr Entscheidungen, man kann mehr klicken, aber am Ende hat man genaudieselben Infos, wenn man alle Punkte anklickt. Statt vier Figurensockelinschriften erfährt man hier in vier Abschnitten jeweils eine.
Die Szene ist aber so oder so unbefriedigend, weil keine echte Entscheidung abverlangt wird. Man schaut sich ja ohnehin alles an. Keine der Entscheidungen ist bedeutsam. Man entscheidet ja auch nicht, was man liest oder anschaut, sondern nur in welcher Reihenfolge.
Die Szene kann viel mehr Bedeutung bekommen, wenn die Figur auf der Flucht ist. Man weiß, dass die untoten Tempelwachen hinter einem her sind, man betritt den Raum.
Erklärung, dass man die Kammer durch die linke Tür betreten hat
Beschreibung der Kammer
Du hörst die Laute der untoten Tempelwachen, die dich entfernt an die Rufe der Gardisten aus Al’Allam erinnern, während sie dich durch die Gassen jagten, weil du das Diadem der Prinzessin gestohlen hast.
Möchtest du …
… die Malereien an den Wänden anschauen (33)
… die Inschriften in den Sockeln der kleinen Figuren studieren (45)
… die Inschrift im Sockel der großen Figur anschauen (55)
… die Särge anschauen (93)
… die Kammer durch den linken Ausgang verlassen (103)
… die Kammer durch den rechten Ausgang verlassen (133)
Jetzt wird die Entscheidung schon spannender. Denn wenn man Abschnitt 103 wählt, wird man direkt von den untoten Tempelwachen getötet. Geht man zu Abschnitt 133 hat man einen Vorsprung, aber keine Informationen. Geht man zu einem der vier anderen Abschnitte, ich nehme mal den Sockel der großen Figur, dann wird man auf andere Folgeabschnitte verwiesen.
Beschreibung der Inschrift im Sockel der großen Figur
Möchtest du …
… die Malereien an den Wänden anschauen (36)
… die Inschriften in den Sockeln der kleinen Figuren studieren (47)
… die Särge anschauen (96)
… die Kammer durch den linken Ausgang verlassen (103)
… die Kammer durch den rechten Ausgang verlassen (133)
Wählt man jetzt die Abschnitte 36, 47 oder 96 wird man in der Kammer gestellt und getötet. Man hat also nur noch eine Information, die man beschaffen kann. Die Wahl wird bedeutsam. Das kann man in der Online-Variante genauso tun, da hat man da mehr Abschnitte, aus denen man wählen und noch mehr Abschnitte, die man nicht lesen kann. So oder so wurde die Entscheidung aber bedeutsam. Sie ist aber immer noch unbefriedigend gelöst, weil sie nicht informiert ist. Auch das lässt sich aber ändern, wenn man der Geschichte mehr Kontext gibt. Nicht im Abschnitt selbst, nicht bei der Entscheidung, sondern davor.
Warum ist die Figur überhaupt in der Grabanlage unterwegs? Sie sucht den Sinnspruch des Gottes Aburah, der den Weg ins Tal des Schatzes öffnen soll. Und wenn man vorher aufmerksam gelesen hat, vielleicht an einer Stelle in der Stadt entschieden hat, die Tempel zu besuchen oder in einer Bibliothek nachzuforschen, anstatt neue Waffen zu kaufen, dann hat man erfahren, dass wohlhabende Personen in ihren Grabkammern mitunter eine Götterstatue aufstellten ließen. Dabei wurde immer nur eine Statue aufgestellt, besonders groß und prächtig, die Statue eines Gottes, dem die begrabene Person besonders nahe stand. Zusätzlich wurden mitunter auch kleinere Figuren platziert, die das Leben der beerdigten Menschen veranschaulichen sollten.
Man ist also auf der Flucht innerhalb der Tempelanlage, sucht eine Inschrift eines Gottes und kann eine informierte Entscheidung treffen, weil man sich diese Information erarbeitet hat:
Erklärung, dass man die Kammer durch die linke Tür betreten hat
Beschreibung der Kammer
Du hörst die Laute der untoten Tempelwachen, die dich entfernt an die Rufe der Gardisten aus Al’Allam erinnern, während sie dich durch die Gassen jagten, weil du das Diadem der Prinzessin gestohlen hast.
Möchtest du …
… die Malereien an den Wänden anschauen (33)
… die Inschriften in den Sockeln der kleinen Figuren studieren (45)
… die Inschrift im Sockel der großen Figur anschauen (55)
… die Särge anschauen (93)
… die Kammer durch den linken Ausgang verlassen (103)
… die Kammer durch den rechten Ausgang verlassen (133)
Es gibt also einen ganz falschen Ausgang (103) und einen das Risiko minimierenden Ausgang (133). Geht man ein wenig Risiko ein, schaut man sich um. In drei von vier Fällen (33, 45, 93) ist die Information nicht die richtige Info, in einem der vier Fälle (55) erhält man die gewünschte Information. Hat man sich vorher informiert oder überlegt man als Spieler hier, wo sich wohl der Spruch eines Gottes befinden könnte (große Figur vielleicht gleich Götterfigur, probiere ich es dort), kann man die Info auch bekommen. Die digitale Version hätte hier jetzt nur mehr falsche Möglichkeiten, aber das Mehr macht die Situation hier nicht automatisch besser.
Sorry für den langen Text, ich wollte nur aufzeigen, dass eine „gute“ Entscheidung nicht automatisch die ist, bei der man viel Auswahl hat. Da kommen verschiedene Faktoren zusammen und auch in Spielbüchern kann man als Autor gute Entscheidungen einbauen.
Zusätzlich kommt noch die Pacing-Sache. Hier nur eine kurze Anregung. Man hat erfahren, dass man ins Krankenhaus fahren soll, weil Mr. White dort eingeliefert wurde. Er ist verletzt, aber vielleicht kann er einen Hinweis geben, wer der Mörder von Mrs. Green war.
Du legst den Hörer auf. Was möchtest du tun?
ins Krankenhaus fahren
zum Friedhof fahren
ins Büro fahren
spazierengehen
zuhause warten
Wählt man „ins Krankenhaus fahren“, wird beschrieben, wie man dort ankommt und die Info erhält. Das ist ein dichtes Pacing, endlich nimmt der Fall Fahrt auf, endlich bekommt man den Hinweis, auf den man seit Ewigkeiten wartet. Und jetzt versauen wir das Pacing mal, Hauptsache ist, der Spieler darf (hier zu) viel entscheiden.
Du willst also ins Krankenhaus. Wie willst du dorthin?
Du nimmst die Straßenbahn. Würfel mit einem W6 die Verspätung aus.
In der Bahn sitzen eine junge Frau und ein Punk mit rosa Haaren. Möchtest du wen ansprechen?
An der nächsten Station steigt ein altes Ehepaar ein. Möchtest du beim Betreten der Bahn helfen?
Die Bahn hält vor dem Krankenhaus? Nimmst du den Haupt-, den Neben- oder den Ambulanz-Eingang.
Du hast keine Ahnung, auf welcher Station Mr. White liegt. Wen möchtest du fragen?
Folgst du dem linken oder dem rechten Gang.
Der linke Gang führt nicht zum Treppenhaus, nimm den rechten Gang.
Fahrstuhl oder Treppe?
Welches Stockwerk?
Welche Tür?
Das kann man alles abprüfen, aber dabei fühlt sich der Spieler so, wie er sich gefühlt hat, als er die Oma zum letzten Mal im Krankenhaus besucht hat und nicht wie der Noir-Detective, der einen Fall lösen muss. Hier ist weniger also eindeutig besser.
Dass Entscheidungen zu gänzlich anderen Erlebnissen führen können, geht in beiden Medien. Dass der Extremfall des linearen Buches nicht befriedigend ist, auch da Zustimmung. Ein Spielbuch zu schreiben ist nicht so ganz ohne, aber es gibt da auch moderne Techniken, die viel Interaktion ermöglichen und verschiedene Durchgänge unterschiedlich gestalten, obwohl der Platz limitiert ist. Das ist er übrigens auch bei digitalen Medien, dennn irgendwer muss den Text auch dort schreiben. Die Sorcery!-Sachen wurden sicherlich überarbeitet, das geht auch gut, weil man ja schon eine solide Basis hat, die man ausbauen kann. Aber auch da ist die Menge an Optionen natürlich nicht unbegrenzt. Wenn man die Bücher neu auflegt und pro Buch 100 Seiten mehr zur Verfügung stellt, wäre auch die neue Buchversion reicher an Handlungsvarianten.